Reisebericht
von Wilhelm Schröder
eljaba@wilh-schroeder.de





 

Epilog

- Freundschaft, das ist wie Heimat -
(Tucholsky)

 
Es war eigentlich schon am Ende unserer Reise im Jahr 2004 klar, dass dies nicht unser letzter Besuch im Memelland gewesen sein durfte. Und nach vielen Widrigkeiten hat sich dann doch im Sommer 2008 die gleiche Reisetruppe noch einmal auf den Weg gemacht, diesmal mit dem Ziel, das Grundstück zu finden, wo das Haus der Urgroßeltern gestanden haben muss. Ausgestattet mit alten Karten und inzwischen neuen Erkenntnissen sollte es doch möglich sein, dorthin zu gelangen.


 
Die Unterkunft war klar: Stefan (Stepanus) aus Druken (Drukiai), die flüchtige Bekanntschaft vor dem Kiosk während unserer letzten Reise, sollte uns beherbergen, was wir auch telefonisch mit seiner Mutter abgesprochen hatten. Doch als wir am 2. August spät abends gegen 23.30 Uhr endlich sein Haus im Dunkeln gefunden haben, treffen wir auf einen erbosten Hauswirt. Er hat uns eine Woche später erwartet - per Telefon war die Kommunikation wohl doch nicht so optimal gelaufen. Nachdem er sich dann vom ersten Schreck erholt hat (und auch wir uns), gewährt er uns schließlich doch Einlass und wir beziehen zwei Zimmer in seinem großen Haus. Wir sind zwar in keinem Luxushotel gelandet, doch Stefan gibt sich fortan redlich Mühe, uns zu versorgen.

 


 

Da wir nur zwei Tage für unseren Aufenthalt in Drukiai eingeplant haben, geht es gleich am frühen nächsten Morgen nach einem von Stefan vorbereitetem Frühstück nach Prökuls, wo wir den rekonstruierten Grundriss der alten Kirche aufsuchen wollen. Gut 200 m nach der schon 2004 entdeckten kleinen Kapelle sehen wir dann die Grundrissmauer und den am Ende angedeuteten Altar. Es ist schon ein seltsames Gefühl, das uns beschleicht, als wir das Kirchenschiff durch den angedeuteten Eingang betreten. Diesen Weg ist auch unsere Mutter im Jahre 1936 zu ihrer Konfirmation gegangen.
 

Eine kleine Rundfahrt durch das ehemalige Prökuls zeigt uns, dass auch hier die Zeit nicht stehen bleibt. Moderne kleine Geschäfte wachsen entlang der Hauptstraße, die in Richtung Klaipeda führt. Selbst ein kleines Hotel und ein gutes Restaurant haben sich inzwischen dort niedergelassen. Vor diesem Restaurant hat man übrigens erfolglos versucht, uns ein Fahrrad zu stehlen. Wir waren doch zu aufmerksam. Das waren aber auch schon die einzig nennenswerten Probleme während unserer Reise.
 

Wir kennen inzwischen den Weg von Prökuls nach Daugmanten. Schnell erreichen wir Wensken und sehen, dass die alte Schule ihr Gesicht inzwischen verändert hat. Moderne Kunststofffenster und Türen haben die alten ersetzt. Außerdem scheint es auch hier immer weniger Kinder zu geben, denn es ist nur noch ein Klassenraum von damals zweien übrig geblieben. Dafür ist die Lehrerwohnung größer geworden. Wir sind froh, dass wir vor 4 Jahren noch das Glück hatten, die alte autentische Schule fotografieren zu dürfen.

Wir biegen links ab, um den ehemaligen Hof von Frau Kaiser zu suchen, der ehemaligen Schulfreundin unserer Mutter, die uns mit so viel Informationen ausstatten konnte, dass wir uns für diese zweite Reise ins Memelland entschieden. Der Hof ist sehr verfallen. Eine alte Litauerin (Bild mouseover) lebt heute dort mit ihrer Tochter und drei Enkelkindern. Diese freuen sich über eine Mütze der deutschen Fußball-Nationalmannschaft und dem Versprechen, noch eine weitere zu schicken, wenn wir wieder zu Hause sind.

Die Minge soll von hier erreichbar sein. Doch irgendwann ist der Weg zu Ende. Wir ahnen den Fluss und machen uns über Wiesen und Felder auf in die vermutete Richtung. Dann haben wir ihn tatsächlich in Sichtweite, und der scharfe Knick nach links in nördlicher Richtung verrät uns, dass wir uns dem ehemaligen Grundstück unserer Ur- bzw. Ur-Ur-Großeltern bis auf wenige Meter angenähert haben.




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Wir stehen rechtsseitig der Minge auf bewirtschafteten Weiden. Ruhig fließt das tiefblaue Wasser an uns vorbei und wir haben das Gefühl, als hätten wir den schönsten Ort entlang dieses Flusses gefunden. Da entdeckt jemand einen kleinen Hügel, der von der Landwirtschaft nicht bearbeitet wurde. Wir schauen noch einmal auf den alten Lageplan, und tatsächlich, hier muss das Haus gestanden haben. Wir gehen die paar Schritte auf die Erhöhung und plötzlich sagt Sven: "Hier liegen noch Ziegelsteine!" Etwa fünf bis sechs Zentimeter unter der Grasnarbe buddeln wir dann in der Tat mehrere rote Ziegelsteine heraus, die zum Gebäude gehört haben müssen. Hier also hat das Haus gestanden.

Sven klopft ein paar Ziegelsplitter von den Ziegeln und verstaut sie in unserem Gepäck. Sie finden später ihren Platz auf Mutters Grab in Papenburg. Dann entdecken wir wunderschöne wilde Blumen, die auf dem Hügel wachsen. Niemand von uns hat solch eine Blume jemals gesehen., Selbst Sven, der gelernter Gärtner ist als auch Karl-Heinz, unser ausgewiesener Naturschützer können sie nicht einordnen. Wir wissen, dass wir keine Pflanzen ausführen dürfen. Also fotografieren wir die schöne Blume, in der Hoffnung, dass irgendjemand sie erkennt und uns einen Tipp geben kann, wo man Samen davon bekommt. Dann sollen sie das Grab unserer Mutter zieren.

 


Sollte irgendjemand eine Idee haben, um welche Blume es sich hier handelt, erbitten wir eine Nachricht per E-mail.

 
In südwestlicher Richtung sieht man einige Häuser stehen, gut 300 m entfernt. Das muss das heutige Daugmantai sein. Über Wiesen nähern wir uns einem der Häuser und werden von einer alten Frau begrüßt. Sie heißt uns freundlich Willkommen und bietet uns frisch gepflückte pomidoras an - Tomaten. Gerne probieren wir und müssen zugeben, lange nicht mehr solch schmackhafte Tomaten gegessen zu haben. Beim näheren Hinsehen fällt uns auf, dass wir schon 2004 hier gewesen sind. Zu der Zeit lebte noch der Ehemann der alten Frau, der uns bei unseren Nachforschungen nicht weiterhelfen konnte. Ein Blick zurück auf den kleinen Hügel macht uns nun bewusst, wie nah wir schon damals unserem Ziel waren. (siehe Bild unten)


Mouseover zeigt das Bild vom Hof aus 2004


 

Hier (X) hat das Haus der Ur-Ur-Großeltern gestanden

 



Natürlich fahren wir auch diesmal zu Martin, der uns bei unserer ersten Reise ins Memelland den Kontakt zur Familie Gailus ermöglichte. Martin lebt inzwischen allein in seinem Haus, seine russische Lebensgefährtin aus Klaipeda hat ihn verlassen. Er erinnert sich an uns, aber wir merken schnell, dass wir nicht mehr den Naturburschen aus 2004 vor uns haben. Martin wirkt nicht mehr so agil und lebensbejahend und auch sein damals gestartetes Umbauprojekt am Haus ist in den letzten vier Jahren nicht einen Deut weiter gekommen. Wir haben ihm Bilder von unserem ersten Besuch mitgebracht. Martin bedankt sich und dann verabschieden wir uns. Der Schotterweg soll uns nach Lankuppen bringen. Dort hat die Mutter beim Schleusenwärter als Kindermädchen gearbeitet.
 

Nach mehrmaligen Fragen stehen wir dann tatsächlich am König-Wilhelm-Kanal, der von hier bis nach Klaipeda führt. Eine Schleuse regelte die unterschiedlichen Wasserstände zur Minge. Der Schleusenwärter Otto Windeit wohnte hier direkt neben der Schleuse mit Frau und damals drei kleinen Mädchen. Der Schleusenwärter hatte eine verantwortungsvolle Arbeit zu verrichten und wurde entsprechend entlohnt. So konnte er sich schon damals ein Kindermädchen für seine Kinder leisten. Die Arbeit meiner Mutter dort entwickelte sich zur Freundschaft besonders zur Frau des Schleusenwärters, die bis zum Ende ihres Lebens bestand. Und als die Mutter 1949 ihr erstes Kind zur Welt brachte, wurde Frau Windeit Taufpatin.

Das Haus aus früheren Tagen steht noch heute, hat aber doch stark gelitten. So ist von der damals vorhandenen Veranda nichts mehr übrig geblieben. Dennoch scheint die Bausubstanz auch heute noch so gut zu sein, dass sich der jetzige Besitzer zu einem Umbau entschlossen hat. Wir treffen das Haus inmitten dieser Umbauarbeiten an und können uns deshalb nur schwer das Bild vorstellen, dass sich in unser Gedächtnis gebrannt hat: unsere Mutter, ein Pferd und drei kleine Kinder vor diesem Haus zu einer Zeit, da hier im Memelland die Welt noch in Ordnung zu sein schien.




 


Mit dem Besuch des Schleusenwärterhäuschens hat sich unsere Mission erfüllt. Wir haben all das gefunden, was uns im Leben unserer Mutter so wichtig erschien. Wir haben ein ganz anderes Verständnis für ihr nie enden wollendes Heimweh bekommen. Wir konnten die Schönheit dieses Landstriches erfahren (im wahrsten Sinne des Wortes), und wir haben Menschen kennengelernt, die hier aufgewachsen sind und uns (vielleicht auch deshalb) freundschaftlich begegneten.

Doch eins steht noch aus: wir haben uns vorgenommen, der Familie Gailus nachträglich zur goldenen Hochzeit zu gratulieren (siehe Teil 2). Auch diesmal werden wir sehr freundlich begrüßt. Frau Gailene (wie der Name einer verheirateten Frau in Litauen richtig abgeleitet wird) lädt uns auch heute ein, ins Haus zu kommen. Und diesmal nehmen wir die Einladung an. Wir sitzen im großen Flur und unsere Gastgeberin hält den Augenblick für angemessen, eine Flasche Sekt zur Feier des Tages aufzumachen, wie sie sagt.

 

 


p.s. Unsere Fahrradtour 2008 führte uns anschließend weiter über die Nehrung in das russische Selenogradsk (ehemals das Ostseebad Cranz) und nach Kaliningrad (dem ehemaligen Königsberg) und von dort ins polnische Olsztyn (früher: Allenstein) bis nach Gdansk (Danzig).

 
 

 
 



 

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