Reisebericht
von Wilhelm Schröder
eljaba@wilh-schroeder.de





Fotoshow



 

Von Šiauliai bis Klaipeda - die Reise geht zu Ende

- Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehen,
Es sei, wie es wolle,
Es war doch so schön. -
(Johann Wolfgang von Goethe)

 

Liest man Reiseführer zu Litauen so gibt es wahrscheinlich keinen, der nicht empfiehlt, den Berg der Kreuze zu besichtigen. Dieser liegt gut 20 km östlich von Šiauliai. Also machen wir uns auch auf den Weg, doch schon kurz nachdem wir Šiauliai verlassen, treffen wir auf eine Baustelle: die Straße zum Berg der Kreuze wird völlig neu verlegt, sodass wir uns mit einem Schotterweg zufrieden geben müssen.

 
Dann irgendwo auf freier Fläche entdecken wir von weitem eine Ansammlung von Bussen und als wir näher kommen sehen wir auch schon die vielen Kreuze. Fliegende Händler haben sich entlang des Zufahrtweges aufgebaut, die mit ihren Souvenirs ein Geschäft machen wollen. Wir stellen unsere Räder direkt vor dem Berg der Kreuze ab und begeben uns an den Ort der "Stille", wie er auch genannt wird, was wir jedoch bei dem Gewusel der vielen Touristen hier nicht wirklich bestätigen können.

Der Berg der Kreuze ist eine litauische Gedenkstätte, die irgendwann im 19. Jahrhundert nach den polnisch-litauischen Aufständen gegen den Zaren entstand, als man dort Kreuze als Zeichen des Protestes aufstellte. Wurden sie entfernt, standen prompt tags darauf neue Kreuze da. Dieser Protest wurde ebenso nach dem 2. Weltkrieg auf diese Weise gezeigt, welches auch bei den damaligen sowjetischen Machthabern nicht auf besonders viel Gegenliebe stieß.

Heute kommen Menschen aus aller Welt, um diese christlichen Symbole hier aufzustellen und wir entdecken unter den abertausenden von Kreuzen tatsächlich eines aus Leons und Svens Heimatort, aus Cloppenburg. Trotzdem sind wir der Meinung, dass wir uns diesen Weg hierher durchaus hätten sparen können. Die besondere touristische Attraktion war der Berg für uns nicht, auch wenn der Eintritt frei war.



 

Es geht zurück in die Stadt, deren City uns auch nicht gerade anspricht. Aber wir kommen ja auch soeben aus Vilnius, und dagegen muss jede Stadt des Landes schlecht aussehen. Trotzdem genehmigen wir uns noch ein gutes Mittagessen in der Fußgängerzone und decken uns mit den Abzeichen dieser Region ein, wie wir es auch in den "rajonas" zuvor gemacht haben. Sie zieren alsbald unsere Mützen. Dann verlassen wir Šiauliai in südwestlicher Richtung über die stark befahrene A12. Dies war im Nachhinein der wahrscheinlich einzige Fehler, den wir während unserer Tour gemacht haben. Wir wären wahrscheinlich besser zunächst nordwestlich in Richtung Kursenai gefahren - aber hinterher ist man immer klüger.
 

Bei Bubiai verlassen wir dann die A12, um auch dem starken Verkehr aus dem Wege zu gehen. Und prompt beglückwünschen wir uns zu dieser Entscheidung, denn wir werden jetzt von einer herrlichen Landschaft begrüßt, die man malerisch kaum schöner darstellen kann. Da wechseln sich Seen, Wälder und Heidelandschaften ab, das Auge kann sich gar nicht sattsehen. Und obwohl die Straßen ausgezeichnet sind, haben wir kaum Verkehr. Allerdings ist diese Gegend hier auch nicht gerade stark besiedelt, die Häuser oft kilometerweit auseinander. Doch wenn man zwei so wahre Naturliebhaber wie Karl-Heinz und Sven dabei hat, kommt man auch unter diesen idealen Voraussetzungen nicht gerade schnell vorwärts - weil es hier doch überall etwas Besonderes zu entdecken gibt.

Nach längeren Beratungen entschließen wir uns, noch möglichst weit zu fahren und machen den nächst größeren Ort auf der Karte als Ziel aus: Užventis, laut Karte ein Ort mit 1000 bis 5000 Einwohnern. Nach 81 gefahrenen Kilometern erreichen wir ihn schließlich gegen Abend, finden aber zunächst niemanden, der Deutsch oder Englisch spricht. Wir haben Glück, dass ein Kioskbesitzer trotz Feierabend sich unser annimmt und uns mit Gesten zu verstehen gibt, dass wir warten sollen. Einige Minuten später fährt eine Frau vor, die uns in recht gutem Deutsch erklärt, dass es in diesem Ort absolut keine Übernachtungs-möglichkeit gibt, weder gewerblich noch privat. Die nächste Herberge sei gut 70 km entfernt.






 
Die Frau, Lehrerin an der Schule von Užventis (mit knapp tausend Schülern!!), merkt uns unsere Ratlosigkeit an und weiß auch, dass wir diese 70 Kilometer an diesem Abend nicht mehr schaffen können. Sie erzählt uns, dass ihr Mann Hausmeister am hiesigen Krankenhaus sei, und vielleicht, so hofft sie für uns, könne man dort ja vier Betten für uns freimachen. Es wird ein Telefonat mit dem Direktor des Krankenhauses geführt, und dieser lässt sich tatsächlich überreden, uns aufzunehmen. Er stellt zur Bedingung, dass wir die Kranken nicht stören und vor allem, dass wir keinen Alkohol im Krankenhaus trinken. Nur zu gerne geben wir dieses Versprechen.

Der Hausmeister begleitet uns dann zu seiner Arbeitsstelle, bringt unsere Fahrräder in einer alten baufälligen Garage unter, wo ein vorsintflutlicher Krankenwagen untergestellt ist, und schließt die Tür mehrfach ab. Überhaupt haben wir im Lande stets das Gefühl, dass die Litauer mehr um unsere Fahrräder besorgt sind, als wir.

 



Das Krankenhaus macht von außen einen sehr gepflegten Eindruck, als wir es jedoch betreten, stockt uns dann doch der Atem. Solche Zustände haben wir nun doch nicht erwartet Hier scheint der Fortschritt vor hundert Jahren stehen geblieben zu sein. Die Toilette hat keinen Toilettendeckel, die Badewanne ist verrostet und von innen mit braunen Wassersteinverfärbungen übersäht, die Türen funktionieren nicht richtig. Kurz, man kann sich nicht vorstellen, dass Menschen hier gesund werden können. Auch die Betten und die Matratzen unseres Zimmers sind in derart schlechtem Zustand, dass wir uns nur mit viel Überwindung darauf legen können. Und trotzdem sind wir froh, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben.

Im Ort gibt es natürlich einen gut sortierten Kiosk, wo wir einkaufen können. Eingedeckt mit Brot, Milch, Wasser, Salami und Käse setzen wir uns dann in den Park vor dem Krankenhaus auf eine Bank und genießen bei langsam untergehender Sonne unser Abendbrot. Einige vom Alkohol gezeichnete mutige Jugendliche setzen sich in unsere Nähe und versuchen Kontakt aufzunehmen. Sie merken aber schnell, dass wir außer ein freundliches "labas vakaras" (guten Abend) und "Aš nekalbu lietuviškai" (Ich spreche kein Litauisch) nicht mehr ihrer Sprache beherrschen. Also lässt man uns dann doch alsbald in Ruhe und geht. Wir ziehen uns an diesem Abend auch schnell zurück und beschließen, morgens so früh wie möglich weiterzufahren.

 


Wir bedanken uns bei den Dienst habenden Krankenschwestern, legen etwas Geld in die Kaffeekasse und lassen die beste Flasche Wein, die es im Kiosk zu kaufen gab, für die Lehrerin zurück. Dann steigen wir gegen 6 Uhr morgens auf unsere Fahrräder und machen gut 10 Kilometer weiter an einer Bushaltestelle in der Nachbarschaft von Nahrung suchenden Störchen unser erstes Frühstück.

 
Wieder fahren wir durch eine wunderschöne Landschaft, diesmal leicht hügelig, aber durchzogen von sehr gut zu befahrenen Straßen. Wir wundern uns, dass es hier trotz dieser so herrlichen Landschaft nur eine derart schwache Infrastruktur gibt, die vor allen Dingen, so scheint es, auch den Tourismus noch nicht für sich entdeckt hat. Wir entdecken seltene Falter und ebensolche Pflanzen, und wir begegnen Familien, die in völlig armseligen Verhältnissen ihre Kinderschar aufziehen, jedoch gerne bereit sind, sich von uns fotografieren zu lassen. Außer dem Liebreiz der Landschaft hat diese Gegend nichts zu bieten und wir sind froh, dass wir nach weiteren 100 Kilometern an diesem Tag Gargždai erreichen, eine Stadt mit 15.000 Einwohnern. Auch unsere erste Reifenpanne während unserer Tour lässt uns nicht daran zweifeln, dass wir hier eine Herberge finden.



 
Doch weit gefehlt. Auch diese Stadt hat angeblich kein Hotel und auch von privaten Zimmern ist hier scheinbar niemandem etwas bekannt. Schließlich aber treffen wir einen jungen Mann, der uns erzählt, dass hier im Ort demnächst ein Hotel eröffnet werden soll. Er empfiehlt uns, dort einmal anzufragen. Und tatsächlich, in einer ehemaligen Großbäckerei hat eine Gruppe junger Menschen die Initiative ergriffen und daraus ein Hotel gebaut, sogar mit riesigem Swimmingpool. Und man lässt uns tatsächlich dort übernachten, für umgerechnet 11,50 Euro pro Person ohne Frühstück. Und gleich darauf stellen wir fest, dass gut 100 m weiter die Minge fließt, Mutters Fluss, der hier in der Nähe entspringt und in dem wir uns spät abends dann abkühlen.

 
Klaipeda ist nur gut 30 Kilometer von Gargždai entfernt, aber da gerade in dieser Region sehr viele neue Straßen gebaut werden, müssen wir einige Umwege in Kauf nehmen. Gegen Mittag ist dann aber auch das letzte Ziel unserer Reise durch Litauen erreicht. Da wir ja zu Beginn der Tour schon hier waren, kennen wir uns ein wenig aus und suchen ein möglichst im Zentrum der Stadt gelegenes Hotel, wo wir die letzte Nacht verbringen können. Klaipeda ist ein teures Pflaster mit vielen ausgezeichneten Hotels, aber die sind auch uns meist zu teuer. Trotzdem werden wir fündig: direkt im Zentrum der Altstadt gelegen macht uns das sehr gute Hotel Lugne ein faires Angebot und wir checken ein.


 
Der Nachmittag geht mit Besuchen des Burgmuseums, des Hafens, des auch für westlichen Standard riesigen Supermarktes Hyper Maxima und mit einem Blick auf das Ännchen von Tharau zu Ende.
 
Am Abend gehen wir in eines der vielen guten Restaurants der Stadt essen. Gegenüber ist eine Diskothek, die wir zum Abschluss unserer Reise aufsuchen wollen. Vor der Diskothek stehen edle Karossen, mit denen die jungen reichen Litauer, die es hier natürlich auch gibt, versuchen Eindruck bei den jungen Damen zu schinden. Als wir jedoch unsere Fahrräder etwas abseits gegen die Mauer des Gebäudes stellen wollen, macht sich der Türsteher bemerkbar und bittet uns darum, unsere Fahrräder doch direkt zu ihm vor den Eingang der Diskothek abzustellen, da könne er sie besser bewachen.
 

Welch ein Aufstieg unserer Fahrräder! Der uniformierte Türsteher vermittelt uns das Gefühl, dass unsere Räder eben so viel wert seien, als die vielen Nobelkarossen direkt daneben. Natürlich geben wir ihm ein gutes Trinkgeld nachdem wir die Diskothek spät abends wieder verlassen.

 
Der letzte Tag ist dann noch einmal der Familienforschung gewidmet. Wir besitzen die Adressen von Mutters Geburtsort hier in Klaipeda und von der Straße in der unser Groß- bzw. Urgroßvater eine Bonbonfabrik besaß. Im Tourist Office bekommen wir einen Memeler Stadtplan aus dem Jahre 1923 mit den zu dieser Zeit hier üblichen deutschen Straßenbezeichnungen. Tatsächlich stehen wir schon kurz darauf an dem Ort, wo laut Geburtsurkunde unsere Mutter geboren wurde (Bild re. mouseover), und ein paar Straßenecken weiter steht genau dort, wo die Bonbonfabrik gestanden haben muss, noch ein kleiner Rest von einer Mauer (Bild re.). Dahinter werden Vorbereitungen getroffen für Neubauten. Der Abriss steht bevor.


 

(Ur)Großvater Georg Rugullis vor seiner Zuckerwarenfabrik "Geru" in der Kleinen Sandstraße, Memel
 


Wir sind also im denkbar allerletzten Augenblick hier angekommen, um noch eine Erinnerung mitnehmen zu können. Wahrscheinlich steht schon kurz darauf nichts mehr von diesem alten Familienrelikt. Sven steckt schnell ein Steinchen aus Urgroßvaters Fabrik in die Fahrradtasche.

Nach insgesamt knapp 600 gefahrenen Fahrradkilometern hier in Litauen legt abends in Klaipeda die Lisco Gloria ab in Richtung Kiel. Und direkt nach unserer Rückkehr werden wir den Stein zusammen mit ein wenig Erde, die wir der Minge bei Daugmanten entnommen haben, auf Mutters Grab in Papenburg legen.

 

   
 
(Ende)


 

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