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Von Šiauliai
bis Klaipeda
- die Reise geht zu Ende
- Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehen,
Es sei, wie es wolle,
Es war doch so schön. -
(Johann Wolfgang von Goethe)
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Liest man Reiseführer
zu Litauen so gibt es wahrscheinlich keinen, der nicht empfiehlt, den
Berg der Kreuze zu besichtigen. Dieser liegt gut 20 km östlich
von Šiauliai. Also machen wir uns auch auf den Weg, doch schon
kurz nachdem wir Šiauliai verlassen, treffen wir auf eine Baustelle:
die Straße zum Berg der Kreuze wird völlig neu verlegt, sodass
wir uns mit einem Schotterweg zufrieden geben müssen.
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Dann irgendwo auf freier Fläche entdecken
wir von weitem eine Ansammlung von Bussen und als wir näher kommen
sehen wir auch schon die vielen Kreuze. Fliegende Händler haben sich
entlang des Zufahrtweges aufgebaut, die mit ihren Souvenirs ein Geschäft
machen wollen. Wir stellen unsere Räder direkt vor dem Berg der Kreuze
ab und begeben uns an den Ort der "Stille", wie er auch genannt
wird, was wir jedoch bei dem Gewusel der vielen Touristen hier nicht wirklich
bestätigen können.
Der Berg der Kreuze
ist eine litauische Gedenkstätte, die irgendwann im 19. Jahrhundert
nach den polnisch-litauischen Aufständen gegen den Zaren entstand,
als man dort Kreuze als Zeichen des Protestes aufstellte. Wurden sie
entfernt, standen prompt tags darauf neue Kreuze da. Dieser Protest
wurde ebenso nach dem 2. Weltkrieg auf diese Weise gezeigt, welches
auch bei den damaligen sowjetischen Machthabern nicht auf besonders
viel Gegenliebe stieß.
Heute kommen Menschen
aus aller Welt, um diese christlichen Symbole hier aufzustellen und
wir entdecken unter den abertausenden von Kreuzen tatsächlich eines
aus Leons und Svens Heimatort, aus Cloppenburg. Trotzdem sind wir der
Meinung, dass wir uns diesen Weg hierher durchaus hätten sparen
können. Die besondere touristische Attraktion war der Berg für
uns nicht, auch wenn der Eintritt frei war.
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Es geht zurück in die Stadt, deren City uns
auch nicht gerade anspricht. Aber wir kommen ja auch soeben aus Vilnius,
und dagegen muss jede Stadt des Landes schlecht aussehen. Trotzdem genehmigen
wir uns noch ein gutes Mittagessen in der Fußgängerzone und
decken uns mit den Abzeichen dieser Region ein, wie wir es auch in den
"rajonas" zuvor gemacht haben. Sie zieren alsbald unsere Mützen.
Dann verlassen wir Šiauliai in südwestlicher Richtung über
die stark befahrene A12. Dies war im Nachhinein der wahrscheinlich einzige
Fehler, den wir während unserer Tour gemacht haben. Wir wären
wahrscheinlich besser zunächst nordwestlich in Richtung Kursenai
gefahren - aber hinterher ist man immer klüger.
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Bei Bubiai verlassen wir dann die A12, um auch
dem starken Verkehr aus dem Wege zu gehen. Und prompt beglückwünschen
wir uns zu dieser Entscheidung, denn wir werden jetzt von einer herrlichen
Landschaft begrüßt, die man malerisch kaum schöner darstellen
kann. Da wechseln sich Seen, Wälder und Heidelandschaften ab, das
Auge kann sich gar nicht sattsehen. Und obwohl die Straßen ausgezeichnet
sind, haben wir kaum Verkehr. Allerdings ist diese Gegend hier auch nicht
gerade stark besiedelt, die Häuser oft kilometerweit auseinander.
Doch wenn man zwei so wahre Naturliebhaber wie Karl-Heinz und Sven dabei
hat, kommt man auch unter diesen idealen Voraussetzungen nicht gerade
schnell vorwärts - weil es hier doch überall etwas Besonderes
zu entdecken gibt.
Nach längeren Beratungen entschließen wir uns, noch möglichst
weit zu fahren und machen den nächst größeren Ort auf
der Karte als Ziel aus: Uventis, laut Karte ein Ort mit 1000 bis
5000 Einwohnern. Nach 81 gefahrenen Kilometern erreichen wir ihn schließlich
gegen Abend, finden aber zunächst niemanden, der Deutsch oder Englisch
spricht. Wir haben Glück, dass ein Kioskbesitzer trotz Feierabend
sich unser annimmt und uns mit Gesten zu verstehen gibt, dass wir warten
sollen. Einige Minuten später fährt eine Frau vor, die uns in
recht gutem Deutsch erklärt, dass es in diesem Ort absolut keine
Übernachtungs-möglichkeit gibt, weder gewerblich noch privat.
Die nächste Herberge sei gut 70 km entfernt.
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Die
Frau, Lehrerin an der Schule von Uventis (mit knapp tausend Schülern!!),
merkt uns unsere Ratlosigkeit an und weiß auch, dass wir diese 70
Kilometer an diesem Abend nicht mehr schaffen können. Sie erzählt
uns, dass ihr Mann Hausmeister am hiesigen Krankenhaus sei, und vielleicht,
so hofft sie für uns, könne man dort ja vier Betten für
uns freimachen. Es wird ein Telefonat mit dem Direktor des Krankenhauses
geführt, und dieser lässt sich tatsächlich überreden,
uns aufzunehmen. Er stellt zur Bedingung, dass wir die Kranken nicht stören
und vor allem, dass wir keinen Alkohol im Krankenhaus trinken. Nur zu
gerne geben wir dieses Versprechen.
Der Hausmeister
begleitet uns dann zu seiner Arbeitsstelle, bringt unsere Fahrräder
in einer alten baufälligen Garage unter, wo ein vorsintflutlicher
Krankenwagen untergestellt ist, und schließt die Tür mehrfach
ab. Überhaupt haben wir im Lande stets das Gefühl, dass die
Litauer mehr um unsere Fahrräder besorgt sind, als wir.
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Das Krankenhaus macht von außen einen sehr gepflegten Eindruck,
als wir es jedoch betreten, stockt uns dann doch der Atem. Solche Zustände
haben wir nun doch nicht erwartet Hier scheint der Fortschritt vor hundert
Jahren stehen geblieben zu sein. Die Toilette hat keinen Toilettendeckel,
die Badewanne ist verrostet und von innen mit braunen Wassersteinverfärbungen
übersäht, die Türen funktionieren nicht richtig. Kurz,
man kann sich nicht vorstellen, dass Menschen hier gesund werden können.
Auch die Betten und die Matratzen unseres Zimmers sind in derart schlechtem
Zustand, dass wir uns nur mit viel Überwindung darauf legen können.
Und trotzdem sind wir froh, überhaupt ein Dach über dem Kopf
zu haben.
Im Ort gibt es natürlich einen gut sortierten Kiosk, wo wir einkaufen
können. Eingedeckt mit Brot, Milch, Wasser, Salami und Käse
setzen wir uns dann in den Park vor dem Krankenhaus auf eine Bank und
genießen bei langsam untergehender Sonne unser Abendbrot. Einige
vom Alkohol gezeichnete mutige Jugendliche setzen sich in unsere Nähe
und versuchen Kontakt aufzunehmen. Sie merken aber schnell, dass wir
außer ein freundliches "labas vakaras" (guten Abend)
und "Aš nekalbu lietuviškai" (Ich spreche kein Litauisch)
nicht mehr ihrer Sprache beherrschen. Also lässt man uns dann doch
alsbald in Ruhe und geht. Wir ziehen uns an diesem Abend auch schnell
zurück und beschließen, morgens so früh wie möglich
weiterzufahren.
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Wir bedanken uns bei den Dienst habenden Krankenschwestern, legen etwas
Geld in die Kaffeekasse und lassen die beste Flasche Wein, die es im
Kiosk zu kaufen gab, für die Lehrerin zurück. Dann steigen
wir gegen 6 Uhr morgens auf unsere Fahrräder und machen gut 10
Kilometer weiter an einer Bushaltestelle in der Nachbarschaft von Nahrung
suchenden Störchen unser erstes Frühstück.
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Wieder fahren wir durch eine wunderschöne
Landschaft, diesmal leicht hügelig, aber durchzogen von sehr gut
zu befahrenen Straßen. Wir wundern uns, dass es hier trotz dieser
so herrlichen Landschaft nur eine derart schwache Infrastruktur gibt,
die vor allen Dingen, so scheint es, auch den Tourismus noch nicht für
sich entdeckt hat. Wir entdecken seltene Falter und ebensolche Pflanzen,
und wir begegnen Familien, die in völlig armseligen Verhältnissen
ihre Kinderschar aufziehen, jedoch gerne bereit sind, sich von uns fotografieren
zu lassen. Außer dem Liebreiz der Landschaft hat diese Gegend nichts
zu bieten und wir sind froh, dass wir nach weiteren 100 Kilometern an
diesem Tag Gargdai erreichen, eine Stadt mit 15.000 Einwohnern.
Auch unsere erste Reifenpanne während unserer Tour lässt uns
nicht daran zweifeln, dass wir hier eine Herberge finden.
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Doch
weit gefehlt. Auch diese Stadt hat angeblich kein Hotel und auch von privaten
Zimmern ist hier scheinbar niemandem etwas bekannt. Schließlich
aber treffen wir einen jungen Mann, der uns erzählt, dass hier im
Ort demnächst ein Hotel eröffnet werden soll. Er empfiehlt uns,
dort einmal anzufragen. Und tatsächlich, in einer ehemaligen Großbäckerei
hat eine Gruppe junger Menschen die Initiative ergriffen und daraus ein
Hotel gebaut, sogar mit riesigem Swimmingpool. Und man lässt uns
tatsächlich dort übernachten, für umgerechnet 11,50 Euro
pro Person ohne Frühstück. Und gleich darauf stellen wir fest,
dass gut 100 m weiter die Minge fließt, Mutters Fluss, der hier
in der Nähe entspringt und in dem wir uns spät abends dann abkühlen.
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Klaipeda
ist nur gut 30 Kilometer von Gargdai entfernt, aber da gerade in
dieser Region sehr viele neue Straßen gebaut werden, müssen
wir einige Umwege in Kauf nehmen. Gegen Mittag ist dann aber auch das
letzte Ziel unserer Reise durch Litauen erreicht. Da wir ja zu Beginn
der Tour schon hier waren, kennen wir uns ein wenig aus und suchen ein
möglichst im Zentrum der Stadt gelegenes Hotel, wo wir die letzte
Nacht verbringen können. Klaipeda ist ein teures Pflaster mit vielen
ausgezeichneten Hotels, aber die sind auch uns meist zu teuer. Trotzdem
werden wir fündig: direkt im Zentrum der Altstadt gelegen macht uns
das sehr gute Hotel Lugne ein faires Angebot und wir checken ein.
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Der
Nachmittag geht mit Besuchen des Burgmuseums, des Hafens, des auch für
westlichen Standard riesigen Supermarktes Hyper Maxima und mit einem Blick
auf das Ännchen von Tharau zu Ende.
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Am Abend gehen wir in eines der vielen guten Restaurants der Stadt essen.
Gegenüber ist eine Diskothek, die wir zum Abschluss unserer Reise
aufsuchen wollen. Vor der Diskothek stehen edle Karossen, mit denen die
jungen reichen Litauer, die es hier natürlich auch gibt, versuchen
Eindruck bei den jungen Damen zu schinden. Als wir jedoch unsere Fahrräder
etwas abseits gegen die Mauer des Gebäudes stellen wollen, macht
sich der Türsteher bemerkbar und bittet uns darum, unsere Fahrräder
doch direkt zu ihm vor den Eingang der Diskothek abzustellen, da könne
er sie besser bewachen. |
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Welch ein Aufstieg unserer Fahrräder! Der uniformierte Türsteher
vermittelt uns das Gefühl, dass unsere Räder eben so viel wert
seien, als die vielen Nobelkarossen direkt daneben. Natürlich geben
wir ihm ein gutes Trinkgeld nachdem wir die Diskothek spät abends
wieder verlassen.
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Der
letzte Tag ist dann noch einmal der Familienforschung gewidmet. Wir besitzen
die Adressen von Mutters Geburtsort hier in Klaipeda und von der Straße
in der unser Groß- bzw. Urgroßvater eine Bonbonfabrik besaß.
Im Tourist Office bekommen wir einen Memeler Stadtplan aus dem Jahre 1923
mit den zu dieser Zeit hier üblichen deutschen Straßenbezeichnungen.
Tatsächlich stehen wir schon kurz darauf an dem Ort, wo laut Geburtsurkunde
unsere Mutter geboren wurde (Bild re. mouseover), und ein paar Straßenecken
weiter steht genau dort, wo die Bonbonfabrik gestanden haben muss, noch
ein kleiner Rest von einer Mauer (Bild re.). Dahinter werden Vorbereitungen
getroffen für Neubauten. Der Abriss steht bevor.
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(Ur)Großvater
Georg Rugullis vor seiner Zuckerwarenfabrik "Geru" in der Kleinen
Sandstraße, Memel |
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Wir sind also im denkbar allerletzten Augenblick hier angekommen, um
noch eine Erinnerung mitnehmen zu können. Wahrscheinlich steht
schon kurz darauf nichts mehr von diesem alten Familienrelikt. Sven
steckt schnell ein Steinchen aus Urgroßvaters Fabrik in die Fahrradtasche.
Nach insgesamt
knapp 600 gefahrenen Fahrradkilometern hier in Litauen legt abends in
Klaipeda die Lisco Gloria ab in Richtung Kiel. Und direkt nach unserer
Rückkehr werden wir den Stein zusammen mit ein wenig Erde, die
wir der Minge bei Daugmanten entnommen haben, auf Mutters Grab in Papenburg
legen.
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