Reisebericht
von Wilhelm Schröder
eljaba@wilh-schroeder.de





Fotoshow
 

In Mutters Heimat

- Ohne Heimat sein heißt leiden -
(Dostojewski)

 
Das Wetter ist herrlich. Die Sonne scheint und wir haben keinen Gegenwind. Hervorragende Bedingungen also, um Fahrrad zu fahren. Die Gegend hat sich allerdings sehr verändert. Der Liebreiz der Nehrung ist verschwunden. Wir passieren kleine graue Häuser, die wie ausgestorben wirken, von deren Höfen wir jedoch fast ausnahmslos lautes aufgeregtes Hundegebell wahrnehmen.


 
Die Siedlung ist schnell durchfahren und dann sind wir auch schon an einem größeren Wasserweg. Das muss der König-Wilhelm-Kanal sein, der auch im Gedicht unserer Mutter eine Erwähnung fand. Plötzlich werden wir von einem größeren Trecker überholt, der Landwirt scheint es sehr eilig zu haben. Auch hier in diesem scheinbar eingeschlafenen Landesteil muss es also auch so etwas wie Hektik und Stress geben. Irgendwie passt das nicht zueinander. Wir überqueren den Kanal, an dem Petrijünger ihr Glück versuchen und nähern uns weiteren kleineren Siedlungen.
 

In Drukiai hat am Straßenrand ein kleiner Kiosk geöffnet, und da unsere Getränkevorräte zur Neige gehen, es zudem gegen Mittag ist und sich auch der Magen bemerkbar macht, entscheiden wir uns für eine Rast. Vor dem Kiosk sitzen zwei Männer und scheinen auch etwas gegen ihren Durst im Kiosk gefunden zu haben. Wodka gibt es dort also auch. Aber wir interessieren uns mehr für vanduõ, für Wasser. Und schnell lernen wir bei diesen Temperaturen die Vokabel šáltas (kalt) und dass es in den Kiosks immer einen gewissen Vorrat an kalten Getränken gibt.

Der Kiosk ist überraschend gut ausgestattet, eine Erfahrung, die wir später noch oft machen und die uns auf unserer Fahrradtour sehr entgegenkommt. Draußen vor dem Laden setzen wir uns in die Nähe der Männer auf eine Bank und haben natürlich deren Interesse geweckt. Schnell stellt sich heraus, dass einer von ihnen sehr gebrochen Deutsch spricht. Er entschuldigt seine Unbeholfenheit damit, dass er „am Tag zuvor“ Geburtstag gefeiert habe, und es dabei des reinen Wassers wohl ein wenig zu viel gab. Trotzdem lädt er uns ein, sein großes Haus zu besuchen, das er seiner Mutter gebaut habe, nachdem er für kurze Zeit in Deutschland gearbeitet habe. Wir bedanken uns für die Einladung, lehnen aber mit dem Hinweis ab, dass wir an diesem Tag noch Einiges zu erledigen haben. (siehe auch unten)
 

Gestärkt geht es weiter und schnell erreichen wir den Ortsrand von Priekule (Prökuls). Gleich linker Hand am Ortseingang befindet sich ein alter Friedhof, der zunächst unsere Aufmerksamkeit findet. Er ist in einem sehr erbärmlichen Zustand, und auf den Kreuzen sind die deutschen Inschriften zum Teil nur mühselig zu entziffern. Hier interessiert sich wahrscheinlich niemand mehr für die Toten.
 

Gleich nach dem Bahnübergang biegen wir links ein und entdecken eine kleine Kapelle. Da es sich um eine evangelische Kapelle handelt, glauben wir, dass hier unsere Ur- bzw. Ur-Urgroßmutter Ilse laut einer Urkunde im Jahre 1864 getauft sein und unsere Mutter sowie Großmutter Erika hier im Jahre 1936 ihre Konfirmation gefeiert haben könnte. Unser Interesse wird von einem jungen Ehepaar bemerkt, und obwohl wir uns nicht verständigen können wird schnell klar, dass das Ehepaar den Schlüssel der Kapelle verwaltet und auf unser Bitten uns dann auch Zutritt gewährt. Ein seltsames Gefühl befällt einen in dem Glauben, dass hier die Mutter in ihrem weißen Kleidchen gesessen hat, auch wenn sich später herausstellt, dass wir falsch liegen. Mutter


 
wurde in der Pfarrkirche konfirmiert, die heute jedoch nicht mehr besteht. Wir bedanken uns für das Entgegenkommen des jungen Hausmeisterpaares und werden winkend verabschiedet.

Kurz darauf erreichen wir den alten Marktplatz, von dem wir noch eine alte Postkarte zu Hause haben. Aber dieser Platz ist kaum noch wieder zu erkennen, und mit den dort lebenden Menschen ist eine Verständigung nicht möglich, die meisten sprechen Russisch. Eine deutsche Fahrradgruppe ist zufällig auch dort. Sie hat eine organisierte Fahrradtour gebucht und somit eine einheimische Fremdenführerin dabei, die uns vom Schicksal der evangelischen Kirche erzählen kann.


 

 









Uns aber treibt es weiter in Richtung Daugmanten. Eine gut ausgebaute Landstraße führt aus Priekule heraus, vor uns liegen geschätzte weitere 10 Kilometer bis zu unserem ersten großen Ziel. Plötzlich überquert von rechts eine Ringelnatter die Straße und hat in diesem Augenblick auch schon ihr Leben verwirkt, als dass sie nämlich von einem zufällig uns überholenden LKW überrollt wird. Von dem Schrecken haben wir uns noch gar nicht richtig erholt, da passieren wir ein Gebäude, das uns sofort bekannt vorkommt. Das muss Mutters alte Schule sein! Wir haben mehrere Bilder gesehen, wo sich die Klassen am Schuleingang aufgestellt hatten, Mutter irgendwo in der Mitte und der alles überblickende Lehrer Klatt an der rechten Seite. Ja, das ist sie, das ist Mutters alte Schule!

Draußen mäht ein junges Mädchen den Rasen. Wir sprechen sie an, leider spricht auch sie nur ein wenig Englisch. Doch gern öffnet sie uns die Schule, die gerade renoviert wird da Ferien sind. Beißender Farbgeruch schlägt uns entgegen, und auch wenn hier jetzt wegen der Arbeiten ein Durcheinander herrscht, wird uns schnell klar, dass sich hier wohl kaum etwas verändert haben dürfte, seit Mutter die Schule verlassen hat. Die junge Frau ist dann so nett, uns alle vor dem Eingang der Schule zu fotografieren, als Beweis für die zu Hause gebliebenen, dass wir tatsächlich Mutters Spuren gefunden haben.

 
Kurz nach der Schule führt ein Schotterweg links ab. Das müsste nach unserer Karte der Weg nach Daugmanten sein. Ein zufällig mit seinem Geländewagen vorbeikommender Arzt hält auf unser Zeichen an und soll unsere Vermutung bestätigen. Er spricht ein hervorragendes Englisch, gibt uns freundlich Auskunft, fährt weiter und wird uns kurz darauf noch einmal bei unseren Nachforschungen behilflich sein. Denn als wir vor dem nächsten Bauernhof Halt machen und uns bemerkbar machen, ist "unser Arzt" dort zufällig auf einem Hausbesuch und überredet nun den ein wenig Englisch sprechenden Sohn der Familie, uns bei unseren Erkundungen im Ort zu begleiten und bei Sprachproblemen behilflich zu sein.

Wir laufen mehrere Gehöfte an, doch niemand spricht Deutsch, niemand kann (oder will) sich erinnern. Es hat auch ein wenig den Anschein, als ob die Menschen unsere Fragen fürchten. Wir kommen jedenfalls nicht weiter. Unser junger Freund, Student an der technischen Universität in Klaipeda und in den Semesterferien zu Hause, scheint schließlich auch nicht mehr groß motiviert zu sein, da er unser Anliegen, etwas über unsere Mutter zu erfahren wahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt auch als aussichtslos erachtet. Er entlässt uns jedoch mit dem Tipp, es eventuell noch bei einem gewissen Martin zu versuchen, der etwas außerhalb in Richtung Lankuppen wohnt.






 



Natürlich fahren wir direkt zu dem beschriebenen Hof. Auf unser Rufen nähert sich ein wohlbeleibter älterer Mann, den wir wohl gerade in seiner Mittagsruhe gestört haben. Er spricht tatsächlich ein wenig Deutsch, doch auch er hat, wie er sagt, am Tag zuvor gefeiert und entschuldigt damit seine mangelnde Sprachkompetenz. Trotz der ungewöhnlichen Besuchszeit lädt uns Martin aber sofort ein, seinen Hof zu betreten, bittet uns die Fahrräder abzustellen und stellt uns dann sein Reich und seine Lebensgefährtin vor. Schließlich macht er mit uns einen kleinen Spaziergang über seine Weide zur nahe gelegenen Minge.

Da liegt sie dann friedlich und in einem herrlichen Blau vor uns: der Fluss, von dem unsere Mutter bis ans Ende ihrer Tage nicht mehr losgekommen ist, der sie ihr ganzes kurzes Leben lang so in den Bann gezogen hat, den sie verloren hatte und nie mehr wieder sehen sollte - obwohl sie es sich so gewünscht hatte. Nun stehen wir hier, geführt von Martin, dem litauischen Naturburschen, der sich noch kurz ein paar Brennnessel über die Schulter schlägt und dann einen Satz in das kühle Nass macht, um sich in der Minge zu erfrischen. Wir sind von der Begegnung mit dem Fluss und den damit verbundenen Geschichten allerdings im Moment zu ergriffen, als dass wir auch auf die Idee kämen, es ihm nachzutun.
 

Was unsere Mutter anbetrifft kann Martin uns auch nicht weiterhelfen. Er ist erst nach dem Krieg hier hergezogen und weiß auch nicht, wer vorher hier gewohnt hat.

Doch nachdem er uns seinen inzwischen eingetroffenen Sohn, seinen kleinen Traktor, den Brunnen, seine Stallungen und die geplanten Umbaumaßnahmen für seinen Hof vorgestellt hat, bekommen wir zum Abschied noch einen Tipp von ihm. Die Familie Heinrich Gailus müsste seiner Meinung nach doch schon vor dem Krieg hier gewohnt haben und wenn überhaupt, dann könnte sie vielleicht noch etwas wissen. (Zusatzinfos siehe unten)


 

Wir werden zunächst von Jagdhunden begrüßt, die uns anspringen, aber auch sofort zurückgehen, als wir keine Angst zeigen. Eine junge Frau kommt nach draußen, und ich frage sie, ob hier jemand deutsch spricht. Sie dreht sich um und ruft laut: „Mama!“ Daraufhin kommt eine kleine alte Frau aus der Tür, und irgendwie weiß ich plötzlich, dass sich hier der Kreis schließt. Ich stelle mich also ohne Umschweife mit den Worten vor: „Ich bin der Sohn von Erika Rugullis!“ und die alte Dame antwortet in perfektem Deutsch: „Ach, die Erika!“. Es stellt sich heraus, dass Frau Gailus die Schwester der damaligen Schulfreundin unserer Mutter ist. Diese Schwester -ist ebenfalls im -Jahre 1944 geflüchtet und
 

wohnt heute in Lübeck. Über sie hat Frau Gailus alles über unsere Mutter erfahren. Sie weiß, dass sie geheiratet und Kinder bekommen hat, weiß, dass sie inzwischen gestorben ist, und weiß, dass sie Gedichte über die Heimat geschrieben hat. Und als sie dann noch erfährt, dass Sven, Erikas Enkel, auch mit von unserer Partie ist, zitiert sie aus Mutters Gedicht und freut sich, dass damit der Wunsch Wirklichkeit geworden ist, die Enkel mögen eines Tages wieder an der Minge spazieren gehen.

Ich bin tief gerührt und merke, wie mir die Augen feucht werden. Ich muss mich abwenden, da es mir in Gegenwart dieser alten Dame doch ein wenig peinlich ist. Nur langsam bekomme ich meine Gefühle wieder in den Griff. Frau Gailus stellt uns noch ihren Mann vor. Beide feiern im nächsten Jahr goldene Hochzeit.

Man lädt uns ein, doch auf eine Tasse Kaffee hinein zu gehen, doch leider müssen wir absagen, denn vor uns liegt noch ein gutes Stück Weg. Hier in Daugmanten bekommen wir wohl kaum eine Unterkunft, und Silute (Heydekrug), wo wir mit einer besseren Infrastruktur rechnen, ist noch weit. Wir erfahren noch, dass das Haus der Großeltern unserer Mutter direkt nach dem Krieg abgerissen wurde. Es lag direkt an der Minge und wir waren wahrscheinlich nur gut 300 Meter von seinem damaligen Standort entfernt. Wir bedanken uns recht herzlich bei Herrn und Frau Gailus und verabschieden uns. Man winkt uns hinterher, ich aber wage nicht, mich noch einmal umzudrehen.

Schnell haben wir die Hauptstraße in Richtung Silute erreicht. Hinweisschilder mit Ortsnamen, die wir seit frühester Kindheit gehört haben, säumen den Weg. Kallwischken, Grumbeln, Lankuppen. Ja, wir haben es wahr gemacht. Wir waren in der von unserer Mutter so geliebten Heimat, wir waren an ihrer Minge spazieren und wir verspüren jetzt den Hauch einer Ahnung, warum sie sich nie davon lösen konnte.

(Im Sommer 2008 haben wir Daugmanten noch einmal besucht. Diesmal haben wir das Fleckchen Erde gefunden, an welchem die Mutter mit ihren Großeltern gewohnt hat. -->siehe: Epilog)

 
Unterwegs kommt uns ein Panjewagen entgegen. Langsam öffnet sich wieder der Blick für das Besondere. Die Kamera wird herausgeholt, und wir warten auf unser Motiv. Doch dem Lenker des Wagens scheint es gar nicht zu gefallen, von uns fotografiert zu werden. Böse ruft er uns ein paar Sätze zu. Dabei wird uns klar, dass auch er den Tag „gefeiert“ zu haben scheint, und wir hoffen, dass die Pferde auch ohne seine Hilfe nach Hause finden. Der Alkohol scheint gerade hier in dieser wirtschaftlich benachteiligten Region ein weit verbreitetes Übel besonders bei den Männern mittleren Alters zu sein.
 


Am frühen Abend dann erreichen wir Silute, das alte Heydekrug. Am Stadtrand hat sich eine kleine Torfindustrie angesiedelt. Auch dieses findet unser besonderes Interesse, kommen wir doch aus dem Emsland, wo neben der in aller Welt bekannten Meyer-Werft gerade die Torfverarbeitung eine führende Position in Deutschland einnimmt.

In der Stadt ist es dann zunächst nicht einfach, ein geöffnetes Tourist-Office zu finden. Doch wir haben Glück und man vermittelt uns das Hotel Nemunas. Es ist zwar nicht besonders luxuriös, aber die Wirtin ist bemüht, uns und unsere Wünsche einigermaßen zufrieden zu stellen. Kurz darauf trifft auch ein Reisebus ein: es ist der Bus für unsere Fahrradgruppe, die wir schon in Priekule/Prökuls getroffen haben.

 
Zusatzinfos zur Begegnung am Kiosk und zu Martin in Daugmanten.
 

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