Mutters Fluchtgeschichte, die sie in einem Brief an ihre Schulfreundin Edeltraud Kaiser 1982 aufschrieb:
 



Leer, den 7.6.1982
 

 

Liebe Traute!

Endlich ist es mir möglich, mein Versprechen einzulösen. Nach vier Wochen Krankenhausaufenthalt hatte ich beide Hände voll zu tun, um Versäumtes nachzuholen. Haushalt, Garten, Bienen, Blumen, Unkraut und zuletzt noch Netze spannen, um reifende Früchte vor unseren lieben Sängern zu schützen. Na ja, - Du weißt es als Garten-besitzerin selbst, wie das so ist.

Nun zu Deinem Brief und dem Foto. Du hast mir damit eine sehr große Freude bereitet, habe mich wie ein Rohr-spatz darüber gefreut. Meine Wenigkeit ziert zwar dieses Schulfoto nicht, habe wahrscheinlich aus irgendeinem Grunde gefehlt. Es sind aber viele auf dem Foto, die ich gekannt habe. Zum Beispiel Heinrich Strangulies, Willi Rogaischus, Walter, Anni und Gertrud Plauschin, Willi Brinkies, Hilde Klatt, Gerda Klatt, Max Galgsdies, Erna Kurschat, Anita Paddags, Grete Salawitz, Anna und Marie Matutis, Martha und Helene Saretzki, Gertrud Knollis, Gerda Krips, Madline Gelßinus, Du und Erna Arnaschus. Die anderen erkenne ich nicht mehr.

Besonders freute ich mich über meine Nachbarinnen Anni, Walther und Gertrud Plauschin. Es ist nur traurig, daß die Gertrud die Kriegsstrapazen nicht überlebt hat und daß sie so ein grausames Ende fand, hat mich zutiefst bewegt. (Gertrud Plauschin ist vor den Augen ihrer Mutter von Russen vergewaltigt worden und kurz darauf gestorben.) Sie war ein sehr lieber Mensch. Ich weiß nicht, was in Gertrud vorging, als die Flucht begann. Sie bat mich innigst, ihr und der Familie nichts Böses zu wünschen, immer wieder bat sie mich darum. Ich versprach es ihr und sagte auch: „Gertrud, wie könnte ich nur Schlechtes wünschen?" Sie bat mich, auch zu fliehen und nur nicht beim Russen zu bleiben. Als ich ihr sagte, daß wir flüchten und auch wie, schien sie sichtlich beruhigt und zufrieden zu sein. Wie ich Dir schon am Telefon erzählte, hatte ich mit Mutter Plauschin eine Meinungsverschiedenheit wegen der Sachen, die wir mit der Schubkarre zum Mitnehmen herbrachten. Sie (Plauschins) hatten uns angeboten, mit ihnen zu fahren, doch als sie die für uns fast unentbehrlichen lebensnotwendigen Sachen sah, verlor sie die Nerven und fing an, laut zu schimpfen, daß es so nicht ginge usw.. Daraufhin sagte ich: „Wenn es jetzt schon so aussieht, wie wird es unterwegs erst sein?" und sagte weiter in meinem damals noch jugendlichen Stolz: „Wir gehen nach Hause und bleiben dann eben beim Russen." So packten wir unsere Kleinigkeiten wieder auf unsere Schubkarre und fuhren heim. In Wirklichkeit hoffte ich doch noch auf irgendeine Lösung, die wir dann im Laufe des Tages auch fanden. Wir beschlossen, mit zwei zusammengekoppelten Kähnen zu flüchten, darin konnten wir ja auch noch ein bißchen mitnehmen, auch 2 x 20 Liter-Kannen Sahne, die uns die Tochter von Plauschin noch nachgebracht hatten, damit wir uns 'ganz gleich in welcher Lage' ein wenig weiterhelfen konnten. Irgendwie konnte ich die Frau Plauschin ja auch verstehen. Sie stand als Mutter in dieser so über Tod und Leben entscheidenden Zeit, alleine mit ihren Töchtern und den Kriegsgefan-genen Franzosen, die die zwei Leiterwagen fahren mußten. Es ging uns damals doch allen ums Überleben. Die Tochter traf ich noch am nächsten Tag, nachdem die Mutter am Vortage schon abgefahren war. Sie hatten das Vieh freigelassen und verließen mit Fahrrädern gerade die Wohnung, um der Mutter nachzufahren. Das war der Tag, an dem ich Gertrud mein sie beruhigendes Versprechen abgegeben habe. Wir sahen uns zum letzten Mal. Ich war später meinem Herrgott dankbar, daß er Frau Plauschin schimpfen ließ. Es hat wohl so sein müssen, denn das hat uns mit Sicherheit Angst und Schrecken erspart oder sogar uns das Leben gerettet. Sowas nennt man Schicksal. Von Pommern habe ich noch einmal an Gertrud Plauschin geschrieben. Sie waren in Samland bei Königsberg. Gertrud schrieb mir damals: „Fast beneide ich euch, dass ihr schon so weit seid. Hier sieht es traurig aus und ich glaube, daß wir hier nie mehr herauskommen.“ Wo lebt Anni Kibelka (Plauschin)?

Wir sind dann mit unseren 2 Seelenverkäufern (Boote) etwa 70 km das Kurische Haff entlang gerudert. Nachts schliefen wir im Schilf, später in den Niederungen (Fischergegend) an und zwischen Heuhaufen. Da es nachts viel regnete, waren wir bis auf die Haut oft naß und mußten am Tage tüchtig rudern, um nicht in den nassen Kleidern zu frieren. Oft wurden wir sogar beim Rudern auch manchesmal wieder ganz trocken. Damals im Oktober war das schon so eine Sache mit den nassen Kleidern, aber komischerweise überstand man alles gut. So kamen wir bis Elchniederung. Dort ließen wir uns in einem Wohnprahm, der dem Wasserschutz und Bauamt gehörte, nieder. Die Wasservilla war mit 4 Doppelkojen und einem kleinen Ofen ausgestattet. Darin warteten wir auf die Dinge, die noch kommen sollten. Über einem langen Brett gelangten wir zum Ufer und zurück. Es sah lebensgefährlich aus, doch selbst meine Oma gewöhnte sich an dieses schmale lange Brett - erst war es nicht leicht für sie. Darin haben wir einige Tage später noch eine Bäuerin mit 4 Kindern und einem Polenmädchen aufgenommen. Diese Frau hatte schon 1 Pferd verloren und wollte im Ort einige Tage bleiben, doch keiner wollte diese Frau mit ihren Kindern aufnehmen. Oma hörte abends in der Dämmerstunde die Frau auf der Straße verzweifelt weinen. Oma sagte kurz entschlossen: „Komm mit, wir haben noch Platz." Und so geschah es auch. Wir rückten zusammen und es ging alles prima.

Diese alte Dame lebt heute in Papenburg im Emsland, dort hat sie seit vielen Jahren wieder ein eigenes Haus und Garten. Ab und zu besuche ich die alte Dame noch, doch sie ist verbraucht und ihre Kraft hat sichtlich nach-gelassen.

Die letzten Wochen wurden wir in Elchniederung von einer sehr netten Familie aufgenommen. Dann wurden Flücht-linge zum Weitertransport nach Pommern registriert. Opa sagte nein dazu. Ich ging dann heimlich zur Kreisleitung und sagte: „Schreiben Sie uns auf, wir fahren." Machte anschließend meinen Opa damit vertraut, mit der Begrün-dung, daß wir mit unseren Booten wegen Frosteinbruchs keine Möglichkeit mehr hatten, weiter zu kommen. Opa schien mit meiner Entscheidung einverstanden zu sein, doch Packen und Beschriften sollte ich dann alleine machen. So geschah es auch. Ich packte und beschriftete einen Tag und eine Nacht. Opa hatte sonst immer sehr viel Energien, ihm schien nichts unmöglich zu sein. Doch da sah ich zum ersten Mal, daß er müde geworden war und kapitulierte. Schon zu Hause, bei der zweiten Flucht ließ er ein wenig die Flügel hängen. Ich war - was ich sonst nie gedurft hatte - plötzlich die antreibende Kraft. So kamen wir nach Pommern.

Von dort kam ich 18 Tage in einen Fliegerhorst als Sanitäterin, kam wieder nach Hause, um auf weiteren Einsatz zu warten. Da wagte ich, meinen auf Rügen während eines Besuchs liegen gelassenen Ausweis abzuholen. Wegen starken Schneetreibens setzten Züge aus und ich mußte dann zu Fuß versuchen, nach Hause zu kommen. Zwei Tage ohne Verpflegung bin (ich) durch endlose Wälder auch nachts gegangen. Habe, um nicht auf der Strecke zu bleiben, zweimal nach Brot gebettelt. Doch die letzte Nacht wäre mir fast zum Verhängnis geworden. Ich bin (um) Mitternacht nach Hause gekommen und bin vor Erschöpfung in der Wohnung zusammengebrochen. Ich war 84 Kilometer gelaufen. Auf den Straßen begegnete man keinem Auto (bzw.) Lastwagen mehr, es lag zu viel Schnee. Damals bestand Postsperre, darum mußte ich die Fahrt wagen, wobei ich dann auf der Strecke blieb. Zu Hause lag schon die Einberufung für weitere Einsätze da. Gleich am folgenden Tag fuhr ich nach Greifswald, die Strecke war geräumt. Dort machte ich einige Tage Bahnhofsdienst. Dann bekam ich den Auftrag, eine aus der Greifswalder Hautklinik mit schweren Hautverbrennungen (jedoch wieder) hergestellte Frau aus Königsberg nach Kyritz-Pregnitz zu begleiten. Dort fand die Frau eine Bleibe bei einem ihr verwandten Augenarzt. (Ich) war jedoch selbst durch meinen vorangegangenen langen Fußmarsch durch Erkältung schwer angekratzt. Ich hustete mehrere Tage schwer. Dann zum Glück wurde ich in ein Lazarett zum Einsatz geschickt, dort kam ich fiebernd an und konnte sofort ins Bett. Ich hatte Mumps und eine sehr schöne dicke Backe. Nach der Genesung wenig später erkrankte ich an Diphtherie, wieder war ich Patient. Als ich auch das überstanden hatte, ging das Packen wieder los. Der Russe war nicht mehr weit. Mit 80 Schwerverwundeten wurden wir dann aufs Meer gebracht, dort sollte uns ein Schiff abholen. Doch es waren nur leere Worte, es kam nichts. Mit Schwimmwesten, die wir Tag und Nacht nicht ablegen durften, kauerten (wir) auch nachts Rücken an Rücken mit den Verwundeten am Boden des Motorschiffs. Zum Liegen war kein Raum vorhanden. Dann tauchte ein Schiff auf und wir machten uns bemerkbar. Es war ein aus Riga kommen-des bewaffnetes Tankerschiff. Auf diesem Schiff wurden wir aufgenommen und verpflegt, das waren die letzten 4 Tage und Nächte vor der Kapitulation. In Warnemünde machten wir noch einen Luftangriff mit, doch unsere Abwehr schoß aus allen Rohren und die Flugzeuge flogen ab. In der Kieler Bucht sah ich plötzlich das Mutterschiff
,Walter Rau’, das wohl mit Flüchtlingen von Memel wiedergekommen war. Als ich das Schiff sah, habe ich ganz laut „Heimatklänge“ gerufen. Jemand fragte mich, ob ich am Durchdrehen bin, doch ich konnte meine Freude dem Fragenden dann erklären. Wir wurden in Eckernförde ausgeladen, dort kamen wir in ein Marinelazarett, das vor unserem (An)kommen schon einige Tage (vorher) geräumt war. Dort lagen auf Strohsäcken unversorgte oder besser gesagt nur kärglich von Helferinnen aus dem Ort versorgte Verwundete. Diese erhielten nun von uns Betreuung und es kamen noch mehr Lazarettschiffe mit Verwundeten. So wurde dieses verlassene Lazarett wieder belegt. Wir haben die erste Nacht hindurch im Luftschutzkeller Verwundete verbunden. In der ersten Nacht im Luftschutzkeller tippte mir eine Rot-Kreuz-Schwester plötzlich an meine Schulter und fragte: „Bist du nicht aus Prökuls?“ Ich bejahte mit den Worten „in der Nahe von Prökuls“. Es war eine Anni Mattutis, die mit mir am Rot-Kreuz-Kursus damals teilgenommen hatte. Wir beschlossen, solange es geht, zusammenzubleiben. Jedenfalls in Eckernförde kamen wir dann in Gefangenschaft, durch Einzäunung und Stacheldraht wurde unsere Welt plötzlich sehr klein. Die erste Zeit haben wir schrecklich hungern müssen, ich habe ein paar Mal die Nerven verloren und vor Hunger geweint. Anni Mattutis wurde später nach Kiel geschickt und ich ging mit ihr. Dann kamen wir nach Hamburg. Dort schloß ich mich einer aus Dänemark kommenden Sanitätskolonne an und dann gings nach Aachen. Dort kamen wir dann wieder hinter den mir schon vertrauten Stacheldraht mit doppelter Umzäunung. Wir hatten ja als Pflegepersonal noch den einen Vorteil, daß wir, wenn wir beim englischen Kommandanten einen Ausgehschein beantragten, (diesen) auch für begrenzte Zeit bekamen. Unseren Ausweis mußten wir beim Wachposten lassen. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft mußte sich die Stadt Aachen verpflichten, uns Heimatlose weiter zu beschäftigen. Das geschah Dank des englischen Kommandanten. Ich arbeitete dann im städtischen Krankenhaus Aachen bis zu dem Tag, wo ich von alleine ausschied, um meinen in Papenburg erkrankten Opa zu pflegen. Opa war an Magenkrebs erkrankt. Ich stand ihm zur Seite bis zum letzten Augenblick.

Von der Anni Mattutis habe (ich) mich in Aachen getrennt, wie so oft im Leben. Wir standen (eine) Zeitlang im Briefwechsel. Das Wasser habe ich fürchten und lieben gelernt, weil es uns immer den Weg zur Rettung bot, obwohl das Wasser auch viele Menschen behalten hat.

Also liebe Traute, hoffentlich wird Dir mein Lebensroman in Kurzfassung nicht zu lang. Erhoffe ein Echo von Dir. Schreibe mir bitte, wie ist es Dir und den Deinen ergangen?

Es grüßt herzlich Erika Bakker*

 

*Erika Bakker geb. Rugullies war in erster Ehe mit Johannes Schröder verheiratet. Aus dieser Ehe gingen ihre insgesamt drei Kinder hervor. Erika Bakker starb am 28.08.1990 an Bauchspeicheldrüsenkrebs in Papenburg - zwei Tage vor ihrem 68. Geburtstag.

 

 
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